Nachtrag 21.01.2012: Eine Freundin hat mich auf Kommentare unter dem TAZ-Artikel hingewiesen, welche das gesellschaftlich konstruierte Geschlecht als ursächlich für die Misere von Transsexuellen ausmachen. Würde dem Geschlecht einer Person nicht so viel Aufmerksamkeit zukommen, so die Argumentation, müssten Transsexuelle keine Geschlechtsanpassung vornehmen, weil sie quasi geschlechtslos “Mensch” sein könnten. Da ich generell ja auch zu einer konstruktivistischen Weltsicht neige, hat mich dieses Argument besonders beschäftigt:

Es ist falsch, Transsexuellen eine geschlechtsangleichende Maßnahme zu verwehren, weil sie sich eines Identitätsmerkmals bedienen (dem Geschlecht), welches man als soziale Unterscheidung ablehnt. An dem von der TAZ geschilderten Fall ist deutlich zu sehen, dass Transsexualität keine Frage von geschlechtlichen Rollenstereotypen oder Rollenmustern ist (vor der Wahl stehend mit Puppen oder Autos zu spielen entscheidet sich das Mädchen genervt für ein herumliegendes Puzzle), sondern viel rudimentärer auf einem vorgesellschaftliches Geschlechtsempfinden beruht, welches nicht mit dem biologischen Geschlecht konform geht.

Die Identifikation mit einem sozialen Geschlecht ist ein anders funktionierender Prozess als die Identifikation mit einem biologischen Geschlecht. Bei ersterem geht es um die Fragen “Was bedeutet mein Geschlecht für mein Dasein? Wie muss/soll/will ich mein Handeln mit meinem Geschlecht verknüpfen?”. Dies sind natürlich Fragen, dessen Antworten sozial konstruiert und auch erlernt werden. Die Identifikation mit dem biologischen Geschlecht basiert aber auf der einfachen Frage: “Welchem Geschlecht bin ich zugehörig?” Decken sich hier subjektive und objektive Antwort nicht, so liegt das nicht an Geschlechterrollenvorstellungen, da diese ja nur das WIE und nicht das WAS definieren. Aus dieser Perspektive erklärt sich auch die in dem TAZ-Artikel angesprochene Unterschiedlichkeit der Aussagen “Ich möchte kein Mädchen/Junge sein” und “Ich bin kein Junge/Mädchen”. Die erste Aussage drückt den Wunsch nach Verschiedenheit von einem als wahr akzeptierten Status aus. Die zweite Aussage stellt die Wahrheit eines Status in Frage.

Für die Sozialwissenschaften heißt das, dass ein unreflektiertes soziologisieren sämtlicher menschlicher Vorgänge genauso verheerend diskriminierend sein kann, wie die Erklärung gesellschaftlicher Konstrukte mit unveränderlichen biologischen Tatsachen. In Großbritannien, einem Land mit relativ liberaler Gesetzeslage bezüglich Transsexualität, ist der wissenschaftliche Konsens vorherrschend, dass sich Transsexualität zu großen Teilen aus gegeneinander konträren Geschlechteranlagen in Gehirnaufbau und Körperaufbau erklärt. In Deutschland ist die erlernte Transsexualität Paradigma, woraus sich die “Hoffnung” eines Umlernens erklärt.

Um die Frage zu beantworten, ob denn ein 11-jähriges Kind eigenverantwortlich die Entscheidung über eine Hormontherapie zur Vorbereitung einer eventuellen Geschlechtsangleichung treffen kann, muss den Verantwortlichen zunächst einmal die Legitimität und Dringlichkeit dieses Wunsches bewusst werden. Hier hilft ein realistisches Bild von Transsexualität und nicht die Vorstellung von biologisch klaren Jungs und Mädels, welche durch Geschlechterrollen, Eltern und Erziehung verwirrt werden.


http://www.taz.de/Transsexualitaet-im-Kindesalter/!85899/

Aus dem Artikel geht hervor, dass ein 11-jähriges Mädchen, biologisch ein Junge, auf Wunsch des Jugendamtes in eine geschlossene Psychiatrie zwangs-eingewiesen werden soll, um anschließend in einer Pflegefamilie, von der Mutter getrennt, eine männliche Geschlechtsidentität zu “lernen”. All dies spielt sich gerade in Deutschland, in Berlin ab.

Mutter und Kind haben beide kein Interesse an dieser “Intervention”.

Die subjektive Geschlechtsidentität des Kindes reicht in der Entwicklung weit zurück, ist stabil und wird von dem Mädchen völlig selbstverständlich eingefordert – so wie bei den meisten Kindern, nur hier eben nicht in Konformität mit dem biologischen Geschlecht.

Das Jugendamt hat nach §8a SGB VIII einen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. Wer verursacht die Gefährdung – die Mutter, welche die subjektive Geschlechtsidentität des Kindes akzeptiert und unterstützt oder das Jugendamt, welches das Kind wieder gerade biegen möchte durch Pathologisierung von Transsexualität oder auch Verneinung der Möglichkeit einer solchen.

Das geschilderte Mädchen wird zur Projektionsfläche individueller Geschlechternormvorstellungen. Ein Gefühl, welches persönlicher nicht sein könnte – die eigene Geschlechtsidentität – wird hier von außen ignoriert, nivelliert und manipuliert, vielleicht, um gesellschaftlich erwünschte Eindeutigkeit herzustellen.

Einem Kind wiederholt einzureden, dass es falsch fühlt, falsch denkt – einfach falsch ist, ist eine von vielen Formen des Kindesmissbrauchs.

Jonas und Anja

P.S.

In Frankreich ist ICD F64.0 als Diagnose nicht mehr zulässig.

cc-by Jonas Schöley